Sie schnarcht!
Von Harry Keaton
Es ist Nacht und ich liege wach. Ich habe ein Problem: Meine Freundin Rita schnarcht! Sie, die tagsüber wunderbar und liebenswert ist, schnarcht in der Nacht. Ohne Hemmungen, ohne Rücksicht! Manche nächtliche Töne machen mir überhaupt nichts aus: Flugzeuge, S-Bahnen und Autos beispielsweise. Aber Ritas Schnarchen attackiert mich völlig unvermutet. Und ebenso überraschend hört es wieder auf. Lange höre ich nichts. Das beunruhigt mich: Hilfe! Ist sie etwa erstickt? Panisch schüttele ich sie. Da stößt sie mir ein raspelndes Fauchen entgegen, fast wie ein Tiger, und leitet auf diese Art eine neue Schnarchsequenz ein. Ich bin von Beruf Zauberer und könnte eine Wildkatze durchaus in Luft auflösen. Aber gegen dieses Schnarchen bin auch ich machtlos.
Ist das der Dank, dass ich eine neue Matratze gekauft habe? Gleich zu Beginn unserer Beziehung hat sie auf einen Neukauf bestanden. Weil auf der bisherigen schon eine andere Frau gelegen hätte. Steckt etwa der Geist der Ex-Freundin in der Matratze? Kaufen Hotels für jeden Gast ein neues Schlafpolster? Ich habe ihr vorgerechnet, dass der Return on Investment nach zwei Jahren noch lange nicht erreicht sei. Ein Austausch wäre eine glatte betriebswirt-schaftliche Fehlentscheidung! Aber aus Liebe und Rücksicht auf die weibliche Logik habe ich schließlich die alte entsorgt (sie war wie neu!) und eine andere für viel Geld gekauft. Rita sagt, sie schläft nun sehr gut. Oh ja, das tut sie!
Es heißt, eine Frau sei zugleich Mutter und Tochter, Hure und Heilige. Mit allen Rollen könnte ich mich irgendwie arrangieren. In allen literarischen Denkmälern für die Frau kommt jedoch mein nächtliches Ungetüm nicht vor. Nachts liegt da ein völlig anderes Wesen neben mir. Das ist nicht mehr meine Rita. Manchmal mache ich das Licht an, weil ich es nicht glau-ben kann. Aber sie ist es wirklich! Diese entgleisten Gesichtszüge, diese absonderlichen Geräusche – das ist sie! In diesen Momenten sage ich mir immer wieder: Harry, Du liebst diese Frau. Denk dran, du liebst sie mitsamt ihren knatternden Geräuschen. Bei ihr flattert ja nicht nur ein Gaumensegel im Wind. Da sticht regelmäßig eine ganze Armada in die See. Und all das liebst Du, Harry, die ganze Flotte!
Vielleicht liegt es nur an meiner Einstellung: Wenn ich schon die Umstände nicht ändern kann, so doch meine Einstellung. Ich könnte es mit Psychoanalyse versuchen. Das Schnarchen stört mich nur wegen eines traumatischen Erlebnisses in der Kindheit. Tatsächlich, ich erinnere mich an einen meiner frühen Auftritte im Altersheim: Eine Heimbewohnerin schlief während meiner Show ein und begann dreist zu schnarchen. Nachher beglückwünschte sie mich, wie schön doch mein Auftritt gewesen sei.
Ist Ritas Schnarchen vielleicht ein Ausdruck ihres Vertrauens in mich, ein Liebesbeweis? Sie lässt sich so gehen, weil sie sich geborgen und aufgehoben fühlt. Alles schön und gut, aber muss es jede Nacht immer die ganz große Nummer sein? Das ganze Schnarch-Arsenal mit allen Instrumenten, das komplette Orchester?!
Gerade präsentiert Rita weitere, unerhörte Töne. Doch was ist das? Sie wacht auf, von ihrem eigenen Schnarchen. Energisch rüttelt sie an mir und sagt vorwurfsvoll: „Du schnarchst“. Dann legt sie sich wieder auf die Seite und schnarcht weiter … Es ist erwiesen, dass mit wachsendem Alter das Schnarchen zunimmt. Das macht nicht gerade Mut. Andererseits: Mit wachsendem Alter nimmt auch die Hörfähigkeit des Menschen ab. Hoffentlich wächst meine Schwerhörigkeit schneller als ihr Schnarchen. Was für ein Genuss muss das sein: Einfach das Hörgerät abstellen und schlafen. Ich kann es kaum erwarten.