Günter Grass hat einen
Oskar für mich
Künstler, die in mehreren Disziplinen tätig waren, haben mich schon immer beeindruckt. Zum Beispiel Leonardo da Vinci. Natürlich! Der überragende Zauberer und Automatenkonstrukteur Jean Eugène Robert-Houdin. Oder Günter Grass, der für seine Arbeit als Schriftsteller nicht nur den Nobelpreis erhielt, sondern auch als Bildhauer und Maler erfolgreich war. Sein erster Roman „Die Blechtrommel“ avancierte rasch zu einem der wichtigsten Nachkriegsromane. Die Verfilmung von Volker Schlöndorff war nicht weniger genial und erhielt sogar einen Oscar.
Und wie ist die Hauptperson, der kleinwüchsige Oskar Mazerath, so eigenwillig und sonderbar. Ein Junge, der mit seiner Stimme Glas zerspringen lässt und seine Umwelt mit einer Blechtrommel nervt. Ein Kind, dessen Gehirn schon bei der Geburt voll entwickelt ist. Ein frühreifes Bürschchen, das mit drei Jahren beschließt, nicht mehr wachsen zu wollen. Ein Zwerg. Ein Freak. Ein Freak? So nannte man in den USA des 19. Jahrhunderts Menschen mit Fehlbildungen oder Verwachsungen. Sie wurden auf Jahrmärkten gegen Geld ausgestellt: Zwerge, Siamesische Zwillinge, Wolfsmenschen und andere bedauernswerte Geschöpfe. Auch Zauberer stellten „Freaks“ aus, indem sie Illusionstechniken nutzten: Die „Dame ohne Unterleib“ etwa war sehr beliebt und spülte zusätzlich Einnahmen in die Kassen.
Der Grass´sche Freak namens Oskar übte eine eigentümliche Faszination auf mich aus. Sicher, ich habe Germanistik studiert und mag gute Geschichten. Aber es ist noch mehr: Für mich verkörpert der kleine Blechtrommler Macht und Ohnmacht zugleich. Und die Gabe Glas zu zersingen, kommt einer Superkraft gleich.
Dieses Phänomen wollte ich meinem Publikum zeigen. Zur Vorbereitung nahm ich über mehrere Wochen Gesangsunterricht bei dem Opernsänger Georgios Bitzios, bevor ich als „Glasbrecher“ auf der Bühne stand. In der Show zersang ich die unterschiedlichsten Gläser. Flaschen wurden wachsweich und selbst eine solide Glasplatte, auf die sich zuvor zwei Männer gestellt hatten, zersprang unter meinem Gesang in tausend Stücke.
Gut, meine schaurig hohen Töne waren nicht wirklich mit Gesang zu vergleichen. Sie trugen aber sehr zum nachhaltigen Theatererlebnis bei, an das sich die Zuschauer noch Jahre später erinnerten. Die ungeheure Wucht, mit der das jeweilige Glas zerspringt, ist nicht ungefährlich. Denn es handelt sich – anders als manche Skeptiker vermuten – tatsächlich um echtes Glas und nicht etwa Zuckerglas. Deshalb lasse ich die Gläser vor der Demonstration untersuchen.
Wie faszinierend das Schauspiel des Glaszersingens ist, zeigte sich auch bei meiner Mitwirkung in der Sendung „Supertalent“. Die Jury und ein Millionen-Publikum waren offensichtlich gebannt, erzielte doch meine Vorführung im Halbfinale der 6. Staffel einen Quotenrekord. RTL zelebrierte den Glasbrecher und das zerspringende Glas mit epischen Bildern und eindrucksvollen Slow Motion-Szenen.
Mein persönlicher Höhepunkt jedoch war der Auftritt im Günter-Grass-Haus in Lübeck. Das habe ich dem engagierten Museumsleiter Jörg-Philipp Thomsa zu verdanken. An diesem Ort Glas zu zersingen – ganz im Sinne des kleinen Oskar Mazerath – war schon etwas Besonderes. Für mich schloss sich da ein Kreis. So als hätten Literatur und Magie (wieder) zueinandergefunden.
Anschließend erhielt ich von Günter Grass eine Lithografie, also einen Steindruck. Wow! Ein Kunstwerk von dem Nobelpreisträger – mit Widmung für den „Glasbrecher Harry Keaton“. Das Bild zeigt Oskar als Blechtrommler. Genau genommen nicht nur einen, sondern eine ganze Armee kleiner Oskars. Auf dieses Geschenk war und bin ich schon ein wenig stolz. Stolz wie Oskar eben.