Kann man so sehen! Muß man aber nicht! Die Sache mit der Perspektive
Der 24.12.1968 war ein besonderer Tag. Die Raumfahrer der Apollo 8 umrundeten den Mond. Der Astronaut Bill Anders fotografierte erstmals die Erde in Farbe. Aus dieser Perspektive hatten wir unseren Planeten noch nie gesehen! Auf dem Foto geht statt der Sonne die Erde auf! Earthrise – für das Time Magazin gehört das Bild zu den „100 einflussreichsten Fotografien der Geschichte“. Warum? „Das Bild ist unser erster farbiger Blick auf die Erde von außerhalb und es hat zur Entstehung der Umweltbewegung beigetragen.“
Was ein Blick von außen, ein Perspektivwechsel doch bewirken kann! Blue Marble, die Erde als blaue Murmel ist eine weitere spektakuläre Aufnahme aus dem Weltall. Das Foto, vier Jahre später aufgenommen, ist in jeder Beziehung ein geradezu perfektes Beispiel für den Perspektivwechsel: Es zeigt die Erde zum ersten Mal ganz als Kugel, als verletzbaren und einzigartigen Planeten! Und doch ist es die ideale Form. Die Kugel ist von jeher ein Sinnbild für die Unendlichkeit. Sie läßt sich leicht in alle Richtungen bewegen.
Das erinnert mich an den Spruch: Der Kopf ist rund damit das Denken seine Richtung ändern kann. Heute, im 21. Jahrhundert, können wir ohne große Mühe auf alle möglichen Weisen die Perspektive wechseln. Ein Bekannter von mir klettert in seiner Freizeit auf Berge. Während des Bergsteigens filmt er sich mit einer Drohne. Er ist Akteur und später Beobachter seiner selbst. Zwei Perspektiven! Oder nehmen wir Google Maps: Mit wenigen Klicks sehen wir unser Zuhause von oben. Bestimmt kennst du auch das Gefühl, wenn du aus dem Urlaub zurückkommst und zum ersten Mal wieder die Wohnungstür aufschließt: In den ersten Momenten wirkt das eigene Zuhause so eigentümlich fremd und vertraut zugleich. Als wärst du ein Fremder, der deine gewohnte Umgebung zum ersten Mal sieht. In diesen Augenblicken kommen dir vielleicht Ideen, was du gerne ändern möchtest.
Das ist eben das Besondere an jedem Perspektivwechsel. Neu sehen lernen! Denn was nutzt es dir und anderen, wenn du die Welt nur durch dein Fenster siehst? Wenn du allein deine Sicht gelten lässt? Du verpasst nicht nur viele Chancen, mitunter ist es sogar gefährlich. Denn das Wort `Perspektive´ kommt ursprünglich aus der Malerei und beschreibt eine Illusion: Auf einer zweidimensionalen Leinwand erschafft der Künstler die Illusion räumlicher Tiefe. Die Welt nur von einem Standpunkt aus, also einer Perspektive, zu sehen, heißt, man begnügt sich mit einer Illusion. Wäre es nicht besser, sie mit anderen Illusionen und Sichtweisen abzugleichen? Zugegeben: Manchmal ist ein Tunnelblick ja durchaus hilfreich. Besonders wenn wir uns ganz auf eine Sache konzentrieren. Alles ringsum zu vergessen, hat manchmal eine besondere und tranceartige Qualität. Aber auf Dauer?
Der großartige Vorteil eines Perspektivwechsels ist, das wir im Alltag plötzlich Neues entdecken. Das ist einer der Gründe, warum ich die Zauberkunst liebe. Sie wirft ein neues Licht auf alltägliche Erfahrungen. Wie ist es möglich, das Bowlingkugeln aus dem Nichts erscheinen? Ist unsere Wahrnehmung tatsächlich so schlecht? Wo hört die Realität auf und wo fängt die Illusion an? Was ist Fake, was ist real?
Alles woran wir uns gewöhnt haben, was so alltäglich und selbstverständlich scheint, wird mit einem Zauber wieder in Frage gestellt. Unsere Erfahrungen eingeschlossen. Nichts ist wie es scheint – und hinter diesem Erleben können sich wieder neue ungeahnte Perspektiven eröffnen.
Und dann: Wie spannend ist es, wenn wir die Perspektive anderer Menschen zu verstehen lernen! Man kann über keinen Menschen urteilen – so ein bekanntes indianisches Sprichwort – ehe man nicht sieben Meilen in seinen Mokassins gelaufen ist.
Der bewußte Perspektivwechsel ist eine Fähigkeit, die uns ein Stück menschlicher macht. In einer globalen Gesellschaft, die durch Kommunikation zusammengehalten wird, ist der Blick aus der Warte des anderen, der Ausflug in neue Perspektiven der Schlüssel zur Empathie.