Der Mann, der Einsteins Gehirn küsste

Die folgende Geschichte klingt bizarr. Sie hat sich aber tatsächlich so ereignet.

Er wollte sich gerade rasieren als das Telefon klingelte: „Thomas, Einstein ist tot. Du sollst sofort kommen und die Obduktion vornehmen. Mach´ schnell, bevor die Medien-Meute Wind davon bekommt. Und sprich mit niemandem darüber, ja?!

Auf der Fahrt in die Klinik überschlugen sich seine Gedanken: Albert Einstein tot? Er konnte – oder wollte? – es nicht fassen. Was hatte er diesen großen Physiker bewundert. Wie alle Welt auf ihn blickte und er sich aus alledem nichts machte. Wie gern wäre er so gewesen wie er: Einsteins bahnbrechende Arbeiten über Masse und Energie, über Raum und Zeit hatten das Weltbild revolutioniert. Auch er, Thomas Harvey, Chefpathologe am Princeton Krankenhaus, träumte von einer bedeutenden wissenschaftlichen Entdeckung. Vielleicht könnte er eines Tages dazu beitragen, den heimtückischen Krebs zu besiegen. Er verbrachte nach der Arbeit unzählige Stunden in seiner Garage, um Gewebeproben zu vergleichen.

Harvey mochte seine Arbeit in der Pathologie. Berührungsängste mit toten Menschen hatte er nie gekannt. Er war derjenige, der die letzte Diagnose stellte, den finalen Schlussstrich zog unter ein Menschenleben mit allen Höhen und Tiefen.

Ihn wurmte allerdings, dass die Medizinkollegen auf ihn herabblickten. Denn sie operierten die Lebenden. Sie waren die glorreichen Chirurgen, während er nur an leblosen Körpern schnippelte, irgendwo im Keller. Dabei wussten sie nur zu gut, dass er auch Gewebeproben lebender Patienten untersuchte. Seine Expertise bahnte den Weg für ihre weitere Behandlung.  Einen bösartigen Tumor mussten sie eben anders behandeln als eine gutartige Zyste.

Auf Parties wurde er manchmal gefragt, ob er auch spektakuläre Mordfälle untersuchte. Immer wieder die gleiche Leier: Er war doch kein Gerichtsmediziner. Als Pathologe obduzierte er nur Leichen, die eines natürlichen Todes gestorben waren. Insbesondere Frauen schienen darüber enttäuscht. Und seine Leidenschaft fürs Mikroskopieren konnte er nicht recht vermitteln.

Einmal nahm er seinen Sohn Robert zu einer Obduktion mit. Dem Filius wurde im Sektionssaal schlecht, beinahe hätte er sich wegen des Leichengeruchs übergeben. Harvey war frustriert, bemühte sich aber, es seinen Sohn nicht merken zu lassen.

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Die karge, sterile und aufgeräumte Klarheit des Krankenhauses wirkten beruhigend auf Harvey. Der Weg zum Obduktionssaal führte durch den gekachelten Kühlraum. Hier lagerten die Leichen in Plastiksäcken. An den Füßen waren Pappkarten mit den Daten der Toten geknotet. Mit Herzklopfen betrat der Pathologe den kühlen Autopsiesaal. Da lag ER. Es war eigentümlich, diesen großen Mann klein und nackt auf dem Seziertisch zu sehen. Einstein wirkte so rührend hilflos, ganz im Gegensatz zu den überlebensgroßen Bildern, die er aus den Medien kannte:

Nobelpreis für Albert Einstein!

Berühmter Physiker wird US-Bürger

Einstein warnt vor deutscher Atombombe

Weltregierung kann laut Einstein Kriege verhindern

Einstein als neuer Staatspräsident von Israel vorgeschlagen

Hunderte Leichen hatten schon auf diesem Seziertisch gelegen, eine Abfolge von Sektionen im Laufe der Zeit. Und nun also er, Albert Einstein. Nie hatte Harvey die Endlichkeit so heftig und schmerzhaft empfunden wie bei diesem Anblick. Große Traurigkeit befiel ihn. Die Uhr an der Wand tickte gleichgültig als ginge sie Einsteins Tod nichts an. Ein Anflug von Zorn überkam ihn. Dass diese verdammten Uhren nie schweigen konnten! Wenigstens für eine Minute – das waren sie Einstein doch schuldig. Er hängte das pietätlose Ding ab und packte es in eine der metallenen Schubladen.

Lange und andächtig stand er vor dem Leichnam. Endlich sagte er: „Schön, dass wir uns nun kennenlernen. Spät, aber immerhin.

Wie immer, nur viel langsamer als sonst, zog er Gummihandschuhe und Mundschutz an. Dann zog er den Mundschutz brüsk nach unten: Die kurze Zeit mit dem Jahrhundertgenie wollte er so intensiv wie möglich erleben. Tief atmete er den Geruch des Leichnams ein. Im fortgeschrittenen Stadium rochen die Leichen faulig, stechend und aufdringlich. Aber im frühen Stadium war das anders. Irgendwie freute es ihn, dass Einstein gut roch, irgendwie süßlich und blumig.

Er begann die Leiche zu befunden. Die Livores mortis, die Totenflecken verliefen wie erwartet blau-violett rückwärtig und seitlich bis zur vorderen Achsellinie. Harvey blickte in die Körperöffnungen und drehte den Leichnam zur Seite. Die Rigor Mortis war bereits kräftig ausgebildet. Die Leichenstarre wirkte sich nicht auf den Schließmuskel aus. Kot war ausgetreten: „Schau an, selbst bei Einstein“, dachte Harvey. War das nun der letzte Gruß des großen Physikers an die Welt? Bei dem Gedanken musste Harvey kichern. Dann reinigte er Leiche und Tisch vom Kot.

Als er den Schnitt ansetzte, um den Torax zu öffnen, stöhnte Einstein auf. Erschrocken hielt Harvey inne. Und lächelte sogleich über sich und seinen Anfängerfehler. Hatte er es doch schon oft genug erlebt: Die Kombination aus Totenstarre und Gas in Eingeweiden führte bei toten Körpern zu Geräuschen. Manche Leichen quietschten oder furzten sogar.

Harvey setzte den Schnitt fort: Zunächst vom rechten, dann vom linken Schlüsselbein, schließlich weiter über die Bauchdecke in Form eines Ypsilons: „Y“ wie Yale Universität. Die Uni, an der er studiert hatte Warum war ihm das bisher nie aufgefallen? Lehrte ihn die Anwesenheit Einsteins die Welt neu zu sehen?

Nachdem er den Bauchraum freigelegt hatte, knackte er mit einer Knochenschere die Rippen durch und entnahm sie samt dem Brustbein. Anschließend legte er die Organe frei, das Herz, die Lungen …

Da war sie, wie erwartet: Eine geplatzte Arterienerweiterung an der Hauptschlagader. Einstein war innerlich verblutet. Zuvor hatte der berühmte Patient schon länger über Bauchschmerzen geklagt. Er könnte noch leben, wenn das Aortenaneurysma operiert worden wäre. Aber der Wissenschaftler hatte eine Operation verweigert. Warum konnten Menschen nur so genial und dumm zugleich sein?

Behutsam legte er die Organe zurück in den Körper. Gleich musste er Abschied nehmen. Wieder überfiel ihn Wehmut. Während er den Y-Schnitt vernähte, nahm ein Gedanke von ihm Besitz. Jäh und fast gewalttätig war dieser Gedanke, wie ein gleißend-heller Blitz: Er könnte doch Einsteins Denkapparat entnehmen. Er erschrak über sich selbst und fühlte sich so schuldig, als hätte er mehrere Seiten aus einer Bibel herausgerissen. Nein, das durfte er nicht tun. Gerade wegen seiner Zuverlässigkeit und Loyalität war ihm diese Obduktion anvertraut worden. Deshalb war er Chefpathologe geworden, neben seiner Fachkenntnis natürlich. Nie zuvor hatte er sich etwas zuschulden kommen lassen.

Aber so sehr er es auch versuchte, er konnte den Gedanken nicht mehr abschütteln: Wem gehörte Einsteins Gehirn? Einstein? Er war tot, sein Gehirn würde ihm nichts mehr nutzen. Hatte nicht auch Leonardo da Vinci Regeln gebrochen und seinerzeit entgegen der kirchlichen Lehre Leichen seziert?

Wenn er jetzt diesen Moment verstreichen lassen würde, war das Gehirn für immer verloren. Es war wie bei dem Werben um ein Mädchen: Es gab oft nur ein kleines Zeitfenster, um die Angebetete zu erobern. Verpasste man den entscheidenden Moment, waren andere Jungs zur Stelle.

Harvey stand wie erstarrt.

Marilyn Monroe schickte ihm einen ermutigenden Kussmund: 

Wenn ich immer alle Regeln befolgt hätte, hätte ich es nie zu etwas gebracht.

Hatte Einstein überhaupt das Recht, der Wissenschaft sein Gehirn vorzuenthalten? Er dachte an den aufgebahrten Wladimir Lenin in Moskau. Was für ein Tamtam wurde um ihn gemacht. Einstein hatte verfügt, dass er verbrannt werden wollte. Seine Asche wäre an einem unbekannten Ort zu verstreuen:

Ich will nicht, dass meine Knochen angebetet werden.

Einstein sollte seinen Willen haben, die Flammen könnten die Knochen verzehren. Aber dieses großartige, einmalige Gehirn?

Er fühlte sich diesem genialen Mann so nah. War nicht auch er anfangs belächelt worden? Einsteins Dissertation wurde zunächst abgelehnt, weil sie zu umständlich sei. Wie Einstein verachtete auch er jede Art von Gewalt und Krieg. Und lebte er nicht – wie der große Forscher – mehr in seinem Kopf als in der realen Welt?

Warum zögerte er noch immer? Diese kleinmütigen Bedenken hatten ihn viel zu lange an einer großen bahnbrechenden Entdeckung gehindert. Wann, wenn nicht jetzt? Er war schon 43 Jahre alt. Das war seine Chance zu beweisen, was in ihm steckte. Klar, einige kleine Geister würden an seinem eigenmächtigen Handeln Anstoß nehmen. Spätestens wenn er Einsteins Genie entschlüsselt hätte, würden sie seine Tat feiern. Wenn er diese Chance vergeben würde, könnte er sich wohl nie verzeihen. 

Harvey spürte einen Anflug von Licht und Größe. Er dachte an Georges Fox:

Ich sah, dass es einen Ozean der Dunkelheit und des Todes gab, doch ein unendlicher Ozean von Licht und Liebe strömte über den dunklen Ozean.

Wohnte nicht in Einstein dieser göttliche Funke, dieses unendliche Licht? Und in ihm selbst, ja, da wohnte es auch. Er war ein Kind des Lichts, wie Einstein. Es war kein Zufall, dass er heute Morgen den Anruf erhalten hatte. Er war zu dieser Aufgabe, er war zu Großem berufen. Er hatte es immer geahnt.

Gott würfelt nicht.

Jetzt, endlich fügte sich alles zusammen. Gott hatte ihn ausgesucht, um der Menschheit dieses Gehirn zu schenken. Ihm war es gegeben, Einsteins Genie zu ergründen. Eine große Verantwortung – ja! – aber er würde ihr gerecht werden. Natürlich würde er viel und konzentriert arbeiten müssen. Notfalls konnte er immer noch Hirnspezialisten heranziehen. Sie würden sich darum reißen, das Gehirn des Jahrhundertgenies zu untersuchen. Sein Name wäre untrennbar mit Einstein verbunden. Er bemerkte ein leichtes Lächeln auf den Lippen des Toten. Er liebte Einsteins feinen Humor.

Jetzt, wo die letzten Zweifel beiseite geschoben waren, überkam ihn ein unglaubliche Hochstimmung. Lange war er nicht so erregt gewesen. Er spürte, wie seine Wangen glühten.

In sich spürte er die Flut gewaltiger Glücksgefühle und den Widerhall großen Jubels. So als wäre ein unbändiges Kind in ihm. Ein Kind, das gickste und jauchzte, sich unbändig freute, lachte und spielte und tanzte. Ein gewaltiges und mächtiges Kind.

Vor Erregung zitterte er. Er zwang sich ruhig zu bleiben. Er mußte der überbordenden Freude Herr werden. Bloß jetzt keinen Fehler machen. Nun würden sie endlich sehen, was in ihm – dem kleinen Pathologen aus dem Keller – steckte.

Als er das Messer in die Kopfhaut drückte, war er wie im Rausch. Über das Hinterhaupt zog er den Schnitt. Dabei drückte er mit der Klinge fest genug auf, damit alle Weichteile bis auf den Schädelknochen durchtrennt wurden. Er zog die Kopfschwarte nach vorne. Mit der Kopfsäge sägte er den Schädelknochen ein. Die Säge erfasste nicht alle Teile der inneren Knochenlamette. Er führte den Schädelsprenger zwischen die Schnittstellen ein und drehte ihn. Das Brechen der Knochenreste klang, als würde man eine Walnuss aufknacken.

Gleich würde er das Gehirn des größten Genies sehen. Und auch die Stelle, wo das Gehirn und das Rückenmark ineinander übergingen: Das Foramen magnum, das große Loch. Hatte Einstein in seiner Relativitätstheorie nicht von Schwarzen Löchern gesprochen? Gleich würde er die Unendlichkeit, das Universum in den Händen halten.

Er hob die Schädelkalotte ab.

Sein künftiges Leben war von nun an vorgezeichnet und stand ihm klar vor Augen: Das Militär würde ihm viel Geld für das Gehirn anbieten, natürlich! Aber sie würden es nicht bekommen. Die Russen auch nicht. Er war allein der Wissenschaft verpflichtet. Schöne Frauen würden seine Gesellschaft suchen. Womöglich würden ihn Geheimdienste jagen. Aber der Präsident würde ihm schon helfen. Mit Dwight D. Eisenhower konnte man reden. Jede Kanone, jedes Kriegsschiff – hatte der einstige General gesagt – sei Diebstahl an den Hungernden. „Ike“, der mächtigste Politiker der Welt, war Pazifist geworden. Wie Einstein und er selbst.

Hier, in Einsteins Gehirn, lag der Schlüssel zu allem. Sein eigenes Leben, die Wissenschaft und die Menschheit standen an einem Wendepunkt. Wer weiß, wenn es gelänge, dieses Gehirn zu klonen …?!

Nachdem er die harte Hirnhaut entfernt hatte, umgriff er mit der linken Hand die Stirnlappen. Er trennte alle Verbindungen und hob das Gehirn unendlich langsam aus der Schädelhöhle. Wie einen heiligen Gral hielt er das verschlungene, atemberaubend schöne Organ in seinen Händen.

Und er konnte nicht anders und berührte das wabblige Ding zärtlich mit seinen Lippen.

Was danach geschah:

Harvey fotografierte das Gehirn und zerlegte es sorgfältig in 240 kleine Würfel, die er in Formaldehyd einlegte. Die eingelegten Hirnstückchen bewahrte er Zuhause im Keller in Bonbongläsern und Tupperdosen auf. Sein eigenes Leben geriet nach dem Hirnklau aus den Fugen: Weil er sich weigerte das Gehirn herauszugeben, wurde ihm gekündigt. Später verlor er auch die Zulassung als Facharzt. Seine Ehe ging in die Brüche und er schlug sich als Fabrikarbeiter durch.

Der ehemalige Arzt zog von einem Ort zum anderen, immer mit Einsteins Gehirn im Gepäck. Reportern gegenüber beteuerte er, dass in ein oder  zwei Jahren die Ergebnisse seiner Untersuchungen vorlägen. Nichts folgte. Vierzig Jahre nach dem Diebstahl brachte er das Gehirn an den Tatort zurück. Thomas Harvey starb in New Jersey, im gleichen Krankenhaus, an dem er einst Chefpathologe gewesen war und Albert Einstein auf seinem Seziertisch lag.