Forever young
Neun Jahre ist Henry Molaison alt, als er auf den Kopf fällt. Ein Fahrradunfall! Seither war nichts mehr wie sonst. Henry sah manchmal Blitze, dann stammelte er Unverständliches und lief ziellos umher. Dann wieder fühlte er sich, als würde er schweben. Schlimm waren die Krampfattacken. Die besonders heftigen warfen ihn zu Boden, er biss sich in die Zunge und verlor das Bewusstsein. Wie sollte er so jemals seinen Traumberuf ausüben, wie Autos reparieren können?
Mit 27 Jahren willigte er schließlich in eine riskante Operation ein: Am 25. August 1953 bohrte ihm der behandelnde Arzt zwei Löcher in den Kopf. Er entfernte die Zündherde aus seinem Gehirn, also jene Nervenzellen, aus denen die elektrischen Impulse unkontrolliert feuerten.
Tatsächlich, danach hatte Henry nie wieder einen epileptischen Anfall. Doch der Eingriff hatte drastische Folgen: Henry konnte sich nichts mehr behalten, er konnte keinerlei neue Erinnerungen speichern. Er wurde auch nicht älter. Sein Leben lang blieb er 27 Jahre alt. So glaubte er.
Bei dem medizinischen Eingriff waren Teile des Hippocampus entfernt worden. Henry fehlte jetzt das Hirnareal, mit dem wir Begegnungen und Ereignisse im Langzeitgedächtnis abspeichern. Er lebte in seiner eigenen Vergangenheit. Gefangen in den Schranken eines 27-jährigen Lebens. Dwight Eisenhower blieb Präsident der USA und Marilyn Monroe der populärste lebende Filmstar. Für immer jung und täglich grüßt das Murmeltier. Für die Gedächtnisforschung war der Patient H.M. – so wurde er von den Wissenschaftlern genannt – außerordentlich interessant.
Obwohl Henry sehr kommunikativ war, konnte er keine neuen Freundschaften schließen. Denn lernte er einen Menschen kennen, hatte er dessen Gesicht nach zehn Minuten wieder vergessen. Sein Kurzzeitgedächtnis funktionierte, aber dauerhaft konnte er sich an nichts erinnern. Noch im Jahre 2008 – Molaisons Körper war mittlerweile 82 Jahre alt – hielt er sich für einen 27-Jährigen. Zwar wunderte er sich, wenn er in den Spiegel sah: Das Gesicht passte nicht zu seinem Alter. Doch wenige Minuten später hatte er auch das vergessen und fühlte sich so jung wie eh und je. Das Schicksal des Patienten H.M. ist ein seltener, wenn nicht einmaliger Fall.
Nicht selten empfinden Menschen eine Diskrepanz zwischen ihrem gefühlten und dem tatsächlichen Alter, auch ohne Operation. Und das geht nicht nur älteren Menschen so. Neulich hat mein Gehirn spontan Lust, mich mit dem Mountainbike auf einem der spektakulären Trails in Graubünden fahren zu lassen.
„Mensch Hirn“, stöhnte ich, „da müssen wir doch vorher trainieren. Und überhaupt, wir sind keine 20 mehr.“
„Du vielleicht nicht“, blaffte es. „Ich schon“.
Das ärgerte mich!
„Immer hältst Du dich für etwas Besseres“, sagte ich zu meinem Gehirn. „Wie kommst Du dazu, meine Lebensjahre zu ignorieren? Eine Frechheit ist das. Und überhaupt: Du gehörst zu mir. Mitgehangen, mitgefangen.“
Warum, frage ich Sie, altert mein `Denkapparat´ nicht gefälligst mit? Schon aus reiner Solidarität mit den anderen Organen. Das Herz zum Beispiel ist vielleicht auch jung geblieben, hetzt mich aber trotzdem nicht herum.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Meistens denken mein Gehirn und ich dasselbe. Dann glaube ich, wir sind ein gutes Team und wir sind eins. Aber manchmal hat mein Gehirn – wie sage ich das am besten – seinen eigenen Kopf. Richtig unvernünftig ist es dann. Es liefert fadenscheinige Begründungen, warum ich sofort einen Schokoriegel essen muss. Obwohl ich auf Süßes verzichten wollte. „Du Hirni, dummes Ding“, schimpfe ich, „wegen Dir habe ich wieder um 23 Uhr genascht.“
Gestern allerdings habe ich eine wissenschaftliche Studie gelesen: Menschen, die sich jünger fühlen als ihr tatsächliches Alter, leben länger. Also, wenn das so ist: „Sorry, mein gutes, liebes Gehirn, Krone der Schöpfung, Quelle aller Weisheit, denke in Zukunft was immer Du willst.“