Rapunzels Geheimnis

Von Harry Keaton

Ich liebe Haare. Haare ziehen mich magisch an – nicht nur weil ich Magier bin. 

Schöne Haare haben eine ungeheure Erotik, ihren eigenen Zauber. Da befinde ich mich wohl in guter Tradition: Schon im Altertum sagte man Frauen mit langen Haaren Zauberkräfte nach. Und die wunderschöne Rapunzel aus dem gleichnamigen Märchen angelte sich mit ihren langen Haaren gleich einen Traumprinz. Als Prinz hätte ich diese Gelegenheit auch beim Schopf gepackt. Haare sind geheimnisvoll. Viele Rätsel sind bis heute nicht gelöst: Warum zum Beispiel rasieren manche Frauen zwar ihre Beine, tun aber nichts gegen ihre Haare auf den Zähnen?

Warum sind Frisöre die einzige Berufsgruppe, die für Scherereien belohnt werden? Warum wächst das Haar bei warmen Temperaturen schneller, obwohl ich es im Winter viel dringender bräuchte? Und schließlich: Warum messen wir beim Haar mit unterschiedlichem Maß? Wir tun alles für die Haare auf dem Kopf, bekämpfen aber erbittert jedes Nasenhaar!?  

Sagen wir es ruhig: Haare gelten als Ausdruck von Vitalität. Gutes Haarmaterial wird ohne Umschweife mit gutem Genmaterial gleichgesetzt. Orangenhaut und Bierbauch lassen sich kaschieren. Das Haar dagegen ist stets an prominenter Stelle zu sehen. Das erfolgreichste Musical aller Zeiten heißt denn auch „Hair“:  Musikalisch hält es den Zeitgeist fest, als sich die Hippie-Bewegung mit langen Haaren vom Establishment abgrenzte. Und heute? Mit Dauerwelle gegen Westerwelle … das funktioniert einfach nicht mehr. 

Schlimmer noch: ich habe den Eindruck, dass die allgemeine „Verglatzung“ unter Männern immer weiter zunimmt. Finden Sie nicht auch? Und bei Frauen ist mir eine Haarpracht wie von Rapunzel bislang auch nicht untergekommen. Haare so lang wie eine zehn Meter lange Brautschleppe – wie hat diese Traumfrau das nur geschafft? 

Gut, viele Männer machen inzwischen aus ihrem schütteren Haar eine Tugend und trösten sich: „Ein schönes Gesicht braucht Platz“. Oder: „Ein Mann will nach oben, die Haare bleiben zurück.“ Andere bevorzugen das Alles-oder-Nichts-Prinzip und greifen zur Schere. Nach dem Motto: Radika(h)l ist immer noch besser, als der verzweifelte Versuch mit einer Handvoll Haar einen Mittelscheitel ziehen zu wollen.

Aber all die Gegenmaßnahmen täuschen nicht über das Unglück hinweg. Deshalb gilt jedem Glatzkopf mein Mitgefühl und ich plädiere für eine neue Begrifflichkeit: „Glatze“ und „Kahlkopf“ sind doch hässliche Wörter! Wie wäre es zum Beispiel „topless“ oder „oben ohne“ – das klingt doch viel netter. Den Frauen bleibt nur, ihre Männer mit Haut, aber eben nicht mehr mit Haaren zu lieben.

Zudem empfehle ich die gründliche Lektüre von Rapunzel. Vielleicht finden wir im Text noch verborgene Hinweise auf das Geheimnis ihrer Haarpracht. Was hatte sie für Pflegeprodukte? Wie oft hat sie sich ihre Haare gewaschen? Stellen Sie sich nur mal vor, sie hätte das nicht getan. Über dem Prinzen hätte es Schuppen geregnet – nicht auszudenken. Die Gebrüder Grimm hätten schleunigst Abstand vom Projekt „Rapunzel“ genommen und stattdessen Frau Holle, Teil zwei, auf den Markt gebracht. Zum Glück ist uns diese wundervolle Königin der Haare erhalten geblieben. 

Ob sich vielleicht auch deshalb einige Frauen die Haare lang wachsen lassen, damit eines Tages ein Prinz daran aufsteigt? Ich hoffe es sehr. Falls Sie ähnliche Träume haben, hier ein Tipp: Benutzen Sie kein Haarwachs. Ein Stufenschnitt dagegen könnte Ihrem Prinzen den Aufstieg erleichtern. Viel Glück! Und rufen Sie mich an, wenn Ihre Haare rapunzel-gleich sind. Ich würde Sie gerne zu einem Latte macchiatto einladen.