Der seltsame Walter Klein

Für die meisten Menschen sind Zahlen blutleere Gebilde. Wohl können sie sagen, wie hoch ihr Gehalt ist und die Höhe ihrer Rechnungen beklagen. Darüber hinaus aber sind ihnen Ziffern so gleichgültig wie eine Ansammlung zerbröselter Fliegenbeine auf einer Fensterbank in China.

Bei Walter Klein war das anders. Die Zahlen sprachen zu ihm, schon immer! Früh begann er zu zählen: Die Stufen der Treppen, die Schritte zur Schule, die Mauerziegelsteine vis-à-vis dem Klassenzimmer, die Anzahl der Passanten …. Wörter und Laute ließen sich nur schwer fassen, sie zappelten und entglitten ihm. Auf Zahlen jedoch war Verlass. Sie gaben ihm Sicherheit. Sie hatten etwas Beruhigendes. Sie vertrieben die Langeweile. Im Supermarkt verblüffte er die Kassiererin indem er sie korrigierte. Walter teilte ihr auf den Cent genau den Wert eines umfangreichen Einkaufs mit. Tatsächlich hatte sie einen Joghurt zu viel berechnet.

Strikte Rituale bestimmten früh sein Leben. Morgens um Punkt sechs Uhr klingelte der Wecker. Vor dem Aufstehen hörte Walter – tagein, tagaus – dreimal das Kinderlied Hoppe, hoppe Reiter. Das Essen nahm er zu fest bestimmten Uhrzeiten ein und er aß nur von seinem blauen Teller. Die Anordnung seiner Plüschtiere im Kinderzimmer durfte nicht verändert werden. Ihre Blickrichtungen ergaben kreuzende Linien, deren Muster und Sinn nur er verstand. Die Familie hatte sich wohl oder übel mit seinen Eigenheiten arrangiert. Seine Wutausbrüche bei den kleinsten Abweichungen waren auf Dauer kaum zu ertragen gewesen, zumal er bei diesen Anfällen heftig aus der Nase blutete.

Urlaube waren ihm ein Gräuel. Sie brachen wie Naturgewalten in sein gewohntes Leben ein und warfen alles durcheinander. Vielleicht lag es auch an den ersten, schrecklichen Ferien auf Mallorca. Sein Vater hatte mit ihm, seinem Bruder und einigen Kindern aus dem Club, einen Bootsausflug unternommen. Als sie hinausgefahren waren, schaltete der Vater den Motor aus. Sanft trieb das Boot auf dem Wasser. Das leichte Schaukeln und das glucksende Geräusch der Wellen ließen Walter dösen. Plötzlich packten ihn sein Bruder und einer seiner Kumpane und warfen ihn johlend ins Meer. Walter Klein schluckte Wasser, schrie und strampelte. Zwar konnte er schwimmen, er hatte es ja im städtischen Hallenbad mit den schönen, quadratischen Kacheln und den strengen geometrischen Formen gelernt, aber die Tiefen des Meeres waren unberechenbar. Dort lebten scheußliche Ungeheuer. Sie bissen dir die Beine ab oder zogen dich mit ihren Tentakeln nach unten ins Bodenlose. Dem Meer war mit Zahlen nicht beizukommen.

In den letzten Schuljahren – er konnte nicht sagen warum – begannen ihn Katastrophen zu erregen. Er sammelte alle Berichte über Flugzeugabstürze, Tsunamis, Wirbelstürme oder den Anschlag auf das World Trade Center. Manchmal fühlte er sich wegen seines Hochgefühls angesichts solcher Tragödien schuldig. Aber dieses Gefühl währte nur kurz. Sogleich versuchte er, das Unglück in Zahlen zu fassen: Die Anzahl der Toten und Verletzten, die zerstörten Häuser, die beschädigten Autos und so weiter.

Nach dem Studium ergriff Herr Klein den Beruf eines Aktuars. Das ist ein Versicherungsmathematiker. Die Berechnungen von Feuer- und Autoversicherungen in den ersten Arbeitswochen langweilten und unterforderten ihn. Aber dann, nach dem Wechsel zu einem der großen Rückversicherer fühlte er sich in seinem Element. Da waren sie, diese gigantischen Naturereignisse, die in das Leben Tausender jäh und so brutal eingriffen. Er drehte an einem großen Rad – Stürme, Erdbeben, Flutschäden – gewaltig und verheerend mit Schäden in Milliardenhöhe. Katastrophen der letzten 500 Jahre, all diese Daten sah er vor sich. An den Zahlen dazu konnte er sich berauschen, immer wieder neu, und sich fühlen wie Gott. Mit der Stochastik, diesem Bollwerk aus Formeln und Berechnungen, konnte er jedes Verhängnis regulieren, im Zaum halten und – wer weiß – vielleicht sogar bannen und gänzlich abwenden. Sollten die Katastrophen nur kommen, er war vorbereitet, er hatte alles durchdacht. Kein noch so großes Desaster würde ihn, Walter Klein, jemals aus der Bahn werfen.

Seine Kollegen begegneten ihm mit Respekt, aber sie suchten nicht das private Gespräch. Selbst im Vergleich mit ihnen haftete ihm etwas Nerdiges an. „Mein Gott Walter“, dachten sie zuweilen, „nun mach dich doch mal locker.“ Abseits der Fachgespräche schien er spröde, zu ernst, um nach Feierabend gemütlich bei einem Wein zu plaudern. Ihm waren Small Talks zuwider, Partys auch. Auf den Feten seiner Mutter war er nur ihr zuliebe hin und wieder zugegen. Dann hielt er sich an einem Glas Champagner fest, trank aber nichts und stellte kurz vor Schluss den abgestandenen Schampus heimlich in der Küche ab. Die vielen Menschen verwirrten ihn. Dieses Flattrige war irritierend, verunsichernd. Sie sprachen aufgeregt und mit großem Ernst über jüngste Einkäufe, neue Fernseh-Serien, die aktuelle Mode. Das konnte sie doch nicht wirklich interessieren?! Das waren nichts als Banalitäten, nicht der Rede wert. Wahrscheinlich spielten sie ihm etwas vor. Sie verabredeten heimlich einen Themenwechsel, sobald er zu ihnen trat. Aber wozu? Was bezweckten sie damit? Er spürte, wie sich ihre Augen auf ihn richteten als müsse er etwas zur Unterhaltung beitragen. Ihre Erwartungen lasteten schwer auf ihm, aber was hätte er denn sagen sollen? Ihre Gespräche torkelten wild hin und her und schienen noch früher betrunken zu sein als die Gäste selbst.

Wenn ihm vom Zuhören schwindlig wurde, half es, eine Zeitlang auf den Boden oder in die Ferne zu starren. Oder er setzte den Body-Mass-Index aller Anwesenden mit ihrem zu erwartenden Lebensalter in Beziehung. Einmal hatte es Ärger gegeben, als ihn eine Frau empört fragte, warum er ständig auf ihren Ausschnitt starrte. Dabei hatte er lediglich die Anzahl der Blumen rund um das Dekolleté gezählt, um die Menge der Blütenblätter mit dem Muster auf der Tapete abzugleichen. Mit hochrotem Kopf flüchtete er aus dem Raum. Er hatte Partys so satt. Das hatte er seiner Mutter schließlich ein für alle Mal klargemacht und es auch Claudia gesagt.

Claudia war seine Freundin. Er hatte sie in der Betriebskantine kennengelernt. Als Kauffrau für Versicherungen verwaltete sie die Verträge der Bestandskunden. Sie bewunderte ihn. Einmal, nach einem Einkauf, schüttete sie das Kleingeld aus ihrer Börse. Er sagte ihr auf den Kopf die Anzahl der Münzen zu: Es waren 47! Außerdem bezifferte er die Summen der einzelnen Nennwerte und den Gesamtwert: 16 Euro, 71 Cent! Wie ihm das gelang, wusste er selbst nicht: Er konnte es eben. Claudia stellte ihn noch öfter auf die Probe und zu ihrem Erstaunen benannte er jedes Mal binnen Sekunden exakt die richtige Geldmenge.

Die Freundin hatte ihm einen Gutschein für einen gemeinsamen Varieté-Besuch geschenkt. Dort trat ein Blitzrechner und Gedächtniskünstler auf. Er memorierte lange Zahlenketten. Freimütig erklärte der Künstler dem Publikum die von ihm verwendeten Mnemotechniken. Der Trick bestand darin, die Zahlen in Bilder zu verwandeln. So stand die „3“ beispielsweise für das Dreirad, die „4“ für ein vierblättriges Dreieck, die „5“ für die Hand (die fünf Finger) und so weiter. Dann verknüpfte er die Bilder zu einer Geschichte. Walter Klein war maßlos enttäuscht. Musste man die Zahlen erst in Bilder übersetzen, um ihrer habhaft zu werden? Wozu das Bild, ein Hilfsgerüst, eine alberne Krücke? Alles überflüssig! Die Zahlen standen für sich. Er, Walter Klein, benötigte jedenfalls keine Bilder.

Einige Monate lang war Walter Klein sehr stolz auf seine Freundin Claudia. Er war 38 Jahre alt und sie war gerade 24 geworden. Der Altersunterschied schien ihr nichts auszumachen. Sie war so anders als andere Frauen. Er mochte die Art und Weise wie sie sprach, klar und akzentuiert. Die hochgeschlossenen Outfits und das zurückgebürstete Haar passten gut zu ihr, so klug und streng. Ihre etwas ungelenke Art sich zu bewegen, zog ihn irgendwie an. Einige Kollegen nannten sie heimlich wegen ihrer langen Gliedmaßen Heuschrecke, aber davon wusste er nichts.

Sie sei als Linkshänderin geboren worden, erzählte sie ihm, doch ihre Eltern sahen darin ein Defizit. Sie hatten darauf bestanden, dass sie alles mit rechts machen müsse, „mit der guten Hand“. Claudia zuliebe ging er mit auf Städtetouren, selbst zu ungeliebten Kurzurlauben konnte sie ihn überreden. Und sogar die Einrichtung seiner Wohnung hatte er auf ihr Drängen verändert, obwohl das absolut nicht notwendig gewesen wäre.

Je mehr jedoch sich für ihn der Reiz des Neuen verflüchtigte, um so schmerzlicher traten Gegensätze zutage. Sie hatte so klug gewirkt. Aber bei mathematischen Fragen legte sie mit beinahe jedem Satz ein erschreckendes Testat blanker Dummheit abgelegt. Wie hatte sie jemals ihren Job bekommen? Ihr fehlte jedes Verständnis für mathematische Zusammenhänge – völlig ungeeignet für die Versicherungsbranche. War er wirklich, fragte er sich immer öfter, in sie verliebt?

Sie standen vor einem Lotto Shop. „Welches sind deine Glückszahlen?“, fragte sie. „Ich habe keine Glückszahlen“, sagte er, „jede Zahl hat ihren eigenen Zauber, ihre eigene Schönheit.“ „Ach, jetzt hab dich nicht so. Dann nenne mir sechs Zahlen, die dir gerade einfallen. Bitte!“
Unwillig nannte er ihr einige Zahlen: 21, 8, 42, 7, 25, 5. „Was sind das für Zahlen?“, fragte sie. „Pi“, sagte er trocken „ab der 1.737 Nachkommastelle. Im Jahr 1737 verwendete Leonhard Euler für die Kreiszahl erstmalig den griechischen Buchstaben π.“ Sie schien ihm nicht zuzuhören. „Und die Superzahl?“ „Null“, sagte er mürrisch. Dann begann er zu dozieren: „Es spielt überhaupt keine Rolle, welche Zahlen du nimmst. Es ist egal, ob es sogenannte Glückszahlen sind, persönliche Daten oder sonst etwas. Im Gegenteil: Geburtstage, Jahres- oder Hochzeitstage werden signifikant häufiger getippt als Zahlen, die nicht auf einem Datum beruhen. Wenn überhaupt, sollten deine Zahlen kein Muster aufweisen, das andere spielen könnten. Du willst doch deinen Hauptgewinn“ – er konnte den Spott in seiner Stimme nicht verbergen – „nicht mit anderen Spielern teilen? Deine Gewinnchancen stehen übrigens 1 zu 140.000.000.“ Genau genommen standen die Chancen 1 zu 139.838.160, aber er wollte nicht pedantisch wirken. „Warum“, fragte er süffisant, „willst du nicht Filmstar werden? Deine Chancen stünden sehr viel besser, immerhin bei 1 zu 1.500.000.“

Ihr Tippschein war komplett. „Fülle du auch einen aus.“ „Nein, das ist rausgeschmissenes Geld.“ Sie insistierte und nötigte ihn förmlich, bis er missmutig den Tippschein ausfüllte. Dabei spürte er, wie eine Wut in ihm aufstieg. Hastig hielt er sich ein Taschentuch unter die Nase. Er durfte sich nicht aufregen, sonst bekäme er womöglich einen Schlaganfall. Die Wahrscheinlichkeit lag bei 1 zu 1600. Bei der Ziehung am Samstag wurden dann nicht einmal zwei ihrer Zahlen gezogen – natürlich nicht.

Dieser an sich harmlose Zwischenfall läutete das Ende ihrer Beziehung ein. Es ging ihm nicht ums Geld, er verdiente gut. Aber es ärgerte ihn, dass er ihretwegen gegen seine Prinzipien verstoßen hatte, wieder einmal. So würde es weitergehen, ein Leben lang. Er würde in dieser Beziehung immer wieder idiotische Sachen tun, gegen seine Überzeugungen und gegen seine Natur.

Bis jetzt hatte er sich zur Geduld gezwungen, wollte nicht besserwisserisch oder überheblich sein. Aber er hielt es nicht mehr aus. Wie oft schon hatte er ihr die Eulersche Zahl erklärt – vergeblich!
Er begann sie zu meiden, ohne eine Erklärung zu liefern. Was hätte er ihr auch sagen sollen ohne sie zu verletzen? Er blieb der Kantine fern, biss lieber in ein belegtes Brötchen, das er seitdem von zu Hause mitbrachte.

Während ihrer Beziehung hatte er säuberlich Buch geführt, wann sie sich gegenseitig kontaktiert hatten, in welchen Abständen und über welchen Kanal. Sogar die Emojis mit den Kussmündern hatte er – mit präziser Uhrzeit vermerkt – notiert. Einmal hatten sie sich gestritten. Daraufhin herrschte zwischen ihnen 3.362 Minuten Funkstille. Hieraus ließ sich die Wahrscheinlichkeit errechnen, wann sie das Ende ihrer Beziehung realisieren sollte. Er kam zu dem Schluss, dass es in drei Monaten, zwölf Tagen und neun Minuten soweit sein würde. Selten hatte er sich so verrechnet. Mehr als ein Jahr bemühte sie sich um Lebenszeichen von ihm, schrieb Mails und machte Vorschläge für Verabredungen. Manche Dinge, das hatte er gelernt, ließen sich offenbar nicht berechnen … das Meer, die Frauen. Vielleicht hatte er deshalb so viel Mühe, sie zu verstehen.

Und Claudia? Immer wieder hatte sie sich Gründe eingeredet, warum Walter Klein sie so selten wiedersehen konnte. Sicher hatte er viel zu tun. Als sie eines Tages nach Feierabend eines ihrer selten gewordenen Telefonate führten, schrie er sie plötzlich an, sie solle ihn endlich in Ruhe lassen. Das musste sie sich nicht gefallen lassen. Nun zog auch sie einen Schlussstrich und beschloss, ihn aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Grimmig löschte sie alle gemeinsamen Fotos von ihrem Handy. Ab nächster Woche würde sie auch kein Lotto mehr spielen. Bisher hatte sie Woche für Woche gespielt, mit den Zahlen, die er ihr damals so spöttisch hingeworfen hatte. Es gelang ihr allerdings nicht ganz, ihn zu vergessen. Einmal noch, am Samstag, verfolgte sie im Livestream die Ziehung der Lottozahlen. Die Gewinnzahlen lauteten 21, 8, 42, 7, 25, 5; Superzahl 0.