Wesenstest mit Schokohase
Von Harry Keaton
Die Brüder Grimm erzählen in einem Märchen von drei schönen Schwestern: Ein Hirte verliebt sich in alle drei und kann sich nicht entscheiden, welche ihm die Allerliebste sei. Deshalb stellt er jede auf die Probe. Miss Perfect wird schließlich diejenige, die vom Käse fein säuberlich die Rinde abschneidet. Und sie leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Natürlich! Was auch sonst!
Nach eigener Erfahrung kann ich sagen: Die Sache mit dem Käse ist Käse! Es gibt viel bessere Indikatoren, um das Wesen eines Menschen zu erkennen. Zum Beispiel der Schokoladenhase an Ostern.
Petra etwa, eine langjährige Freundin, entblättert den Hasen, beißt zunächst in den Unterbau und arbeitet sich dann nach oben. So müsse der Osterhase – sagt sie – nicht leiden. Als würdest du weniger leiden, wenn dir jemand Stück für Stück die Beine abbeißt und sich dabei unerbittlich deinem Gemächt nähert. Der blanke Horror!
Aber immerhin steht hinter Petras Absicht aufrichtige Empathie mit allen Geschöpfen auf diesem Erdenrund: Der erste Biss in den Schokohasen, in seinen wohlgeformten Körper kostet schließlich Überwindung. Bringst du das übers Herz? Eben noch hat dich Hasi so niedlich angelächelt und jetzt willst du ihn zwischen den Zähnen zermalmen? Wer weiß, vielleicht lebt er ja doch. So ein bisschen jedenfalls?! Früher oder später überwiegt trotz allem die Gier auf Süßes – SCHOKOLADE!!! – du fällst wie ein Raubtier über den armen Hasen her. Und tröstest dich mehr schlecht als recht – mit Bertolt Brecht: Das Fressen kommt halt doch vor der Moral. Das Resultat: Petra isst die Hasenohren zuletzt. Man darf sie einen guten Menschen nennen, mit etwas ungenauen Vorstellungen von Moral und Anatomie eines Schokohasen.
Ihre großen Ohren nutzen Hasen bekanntlich, um bei dem leisesten Geräusch vor ihren Feinden zu flüchten. Anders als Petra beißen die meisten Menschen, einem uralten Jagdinstinkt folgend, dem Hasen zuerst in die Ohren: Ein Keinohrhase wird nicht mehr flüchten wollen. Er hört ja nichts mehr. Auch sind die Ohren mundgerecht geformt, was man von dem restlichen Schokokörper nicht gerade sagen kann. Wer den Hasen so verzehrt, ist eher kopfgesteuert: „Ich, der Mensch, Fressfeind eines jeden Schokohasen, bin schlau und überliste alle Hasen. Jahr für Jahr!“
Praktisch veranlagte Leckermäuler wie Jochen haben eine andere Strategie: Noch in der Folie zerdrückt er den oberen Teil des Hasen, so dass die Schokoteile nach innen fallen. Beim Auspacken lässt er am Fußende noch etwas Folie über und verwendet dieses Teil wie eine Schale für die Schokoteile. Ziemlich clever, meine ich. Merkwürdig finde ich aber die Menschen, die den Hasen zertrümmern und die Schokostücke in einer Porzellanschale anbieten. Das ist so, als würde man im Museum ein Gemälde von Rembrandt zerschneiden und die Leinwandfetzen den Besuchern präsentieren.
Eine Sache finde ich ganz und gar unmöglich: Manche ziehen den Hasen zunächst komplett aus, bevor sie ihn essen. So weit, so nachvollziehbar; wer beißt schon gerne in ein Stück Alufolie?! Also weg damit. Empörend ist aber, wenn sich das Häschen stundenlang nackt auf dem Teller räkeln muß und niemand knabbert an ihm. Da liegt das Hasi nun in seiner ganzen Schoko-Schönheit-Pracht wie ihn Milka & Co. geschaffen haben. Seine großen Kulleraugen sagen „Vernasch mich. Tue es! Jetzt!“ … und keiner tut es? Das ist doch entwürdigend. Niemals würde ich meinen Hasen in eine solche Verlegenheit bringen. Achtlos auf dem Präsentierteller zu liegen. Das Gefühl nicht begehrt zu sein. Oh, das müssen Qualen sein. Was soll denn das Hasi denken? Bin ich nicht süß genug? Ist der goldene Lindt-Hase etwa hübscher? Womöglich bin ich ihm zu hohl? Sieht denn niemand meine Schokoladen-seite? Ich bin doch zarter Schokoschmelz durch und durch. Lasst euch gesagt sein: So ein Hasenver-ächter hat null Einfühlungsvermögen. Zieht Euch warm an, wenn Ihr irgendwo einen nackten Hasen seht.
Das Allerschlimmste – nein! – das Allerletzte habe ich aber bei Karin erlebt. Mir läuft es noch heute kalt den Rücken herunter. Sie nimmt den niedlichen Schokohasen, legt ihn auf ein Holzbrett, zieht einen Fleischhammer (!) aus der Schublade und und zertrümmert damit das Hasi, das unter grausigem Krachen zerbricht. Wir reden hier nicht von ästhetischen Erwägungen. Wir reden auch nicht davon, dass sich ein grobes Werkzeug, geschaffen für ein blutiges Steak, und ein süßer Schokohase sozusagen diametral entgegenstehen. Nein, Karin hat den Hasen noch nicht einmal auf den Bauch gedreht. Er musste zusehen, wie sie den Hammer schwang. Böse Karin! Grausame Wiedergeburt einer Grimm´schen Hexe. Ich habe sofort all ihre Kontaktdaten gelöscht. Aus und vorbei!
Und die Moral von der Geschichte? Auf den Verzehr von Schokohasen ganz verzichten? So wie es Charlotte schon ihr Leben lang praktiziert. Weil ihr die süßen Schokohasen leid tun, isst sie keinen davon auf. Die Hälfte ihrer Wohnungseinrichtung ist bereits im Garten ausgelagert, damit sie Platz für ihre Hasensammlung hat. Mittlerweile sind es Hunderte! Das finde ich dann doch übertrieben. Ich meine, jedes Ding, jeder Schokohase und jeder Mensch hat seine Bestimmung, die ihm nicht verwehrt werden darf. Der Hase wurde geschaffen, damit er konsumiert wird. Er gehört einfach gegessen. Punkt. In einer freien Marktwirtschaft sowieso. Nur so bleiben die Maschinen in Schwung und die Wirtschaft läuft wie geschmiert. Es ist ja ein Irrglaube, dass die Schokohasen-Hersteller einen buddhistischen Ansatz verfolgen, wonach sie die nicht verkauften Hasen einschmelzen, um sie an Weihnachten als Schokonikoläuse zu reinkarnieren.
Nein, ich esse meinen Hasen. Mehr noch! Von J.F. Kennedy habe ich gelernt: Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann – fragt, was ihr für euer Land tun könnt. Ohne mich übermäßig rühmen zu wollen, aber das ist unablässig die Richtschnur meines Handelns. Deshalb kaufe ich nach Ostern alle Schokohasen, die ich finden kann. Mit mindestens 50 Prozent Rabatt. Und dann esse ich sie auf. Aus reinem Pflichtgefühl. Einer muss es ja tun. Tag für Tag. Schokohase am Morgen, Schokohase am Mittag, Schokohase am Abend – dann mit einem kräftigen Rotwein. Schon möglich, dass ich eines Frühlingstages hoffnungslos verfette. Aber ich bin kein Hasenfuß. Ich weiß, was ich diesem Land schuldig bin. Man muss eben auch mal Opfer bringen. Und sein Päckchen tragen. Ich trage meines eben künftig vor mir her – in Form einer Wampe.